Als ich noch kleiner war als jetzt (ja, schwer vorstellbar, ich weiß :P) dachte ich immer, drei Jahre wären eine unfassbar lange Zeit. "Noch drei Jahre, dann bin ich erst 16!" "Noch drei Jahre bis zum Abi! Oh Mann! Wie soll ich das bloß überleben?" So komische Gedanken, die man halt als Kind, Jugendlicher oder wie auch immer hat, weil man denkt, wenn man älter wird, wird man auch irgendwie cooler, alles wird einfacher und man kann endlich alles machen, worauf man Lust hat. Natürlich wird das Leben nicht nur einfacher, im Gegenteil, aber das Erwachsensein und Alleineleben hat schon so seine Vorteile. Warum ich hier so rumphilosophiere? Weil heute ein drittes Jahr für mich zu Ende geht und ich an dieser Stelle mal ein kurzes Fazit ziehen möchte. Heute vor drei Jahren bin ich nämlich nach Bochum gezogen. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich heute in meiner Wohnung in Göteborg sitzen und hier ein Auslandssemester machen würde, hätte ich vermutlich die netten Männer in den weißen Jacken gerufen.
Nein, mal im Ernst: Vor drei Jahren konnte ich mir wirklich noch überhaupt nicht vorstellen, dass ich tatsächlich alleine, also ohne meine Eltern, leben kann. Wahrscheinlich geht das den meisten Jugendlichen so, die bei ihren Eltern ausziehen und noch nicht einmal wissen, wie man eine Waschmaschine oder einen Wischmob bedient. Besonders kompliziert wird die Angelegenheit aber, wenn man sich noch nicht mal alleine an der Nase kratzen kann, geschweige denn alleine kochen, waschen usw. Als ich also nach Bochum gezogen bin, war ich voller Vorfreude auf mein neues Leben als Studentin, aber auch voller Sorgen, wie und ob das Leben mit Assistenz so funktionieren kann. Da ich ja bisher bei meinen Eltern gewohnt habe und sie meine komplette Pflege und alles was sonst so zum Behindi-Dasein gehört für mich gemanagt haben, war das ganze natürlich eine riesige Umstellung für mich. Plötzlich konnte ich mich nicht mehr blind auf zwei Menschen verlassen, sondern musste 14 Mitarbeiterinnen jeden einzelnen Handgriff erklären. In den ersten Wochen wäre ich bei einigen von ihnen am liebsten ausgerastet (manchmal tue ich das noch immer) und hätte ein paar mal fast alles hingeschmissen. Was mich zum Bleiben motiviert hat? Meine Familie hat ein Jahr lang sämtliche Energien in das Projekt "Vici-Auswilderung" gesteckt und das wollte ich natürlich nicht innerhalb weniger Wochen zunichte machen. Außerdem hat es mir sehr geholfen, dass meine Mutter im ersten Monat mit dabei war und bei der Einarbeitung und Aussortierung der unfähigsten Angestellten geholfen hat. (Danke!!!) Last nur not least hatte ich die besten Vollzeitkräfte der Welt an meiner Seite, mit denen jede Schicht wie ein Wellnessurlaub war (und immer noch ist).
Natürlich ist das Leben mit Assistenz nicht immer ein Zuckerschlecken. Aber das ist das Leben ohne ja auch nicht. Selbstverständlich ist es auch manchmal extrem nervig, wenn man immer jemanden um sich hat und so etwas wie Privatsphäre quasi nicht existiert. Ich hätte auch am Anfang niemals damit gerechnet, wie viel organisatorischer Aufwand hinter dieser ganzen Assistenzsache steckt. Die Bändigung des Hühnerhaufens erfordert manchmal echt starke Nerven! ;) Und wenn mal jemand krank wird, muss in kurzer Zeit ein Ersatz gefunden werden und das wird dann manchmal echt stressig. Natürlich weiß ich, dass eigentlich mein Pflegedienst dafür zuständig ist, aber ich kümmere mich lieber selbst um meine "Mädels" und weiß dann, dass auch alles funktioniert. Bei mir läuft natürlich auch nicht immer alles rund und auch ich kann dumme Kommentare von komischen Leuten und beschissene Alltagssituationen nicht immer einfach wegstecken und darüber lachen. Bevor ich nach Bochum gekommen bin, habe ich deshalb häufig versucht solche Menschen und Situationen zu meiden. Ich habe mich versteckt und immer so getan, als wäre alles total in Ordnung. Nie im Leben hätte ich einer "fremden" Person erzählt, wenn mir etwas gegen den Strich geht oder ich mich schlecht fühle. In den letzten drei Jahren habe ich aber gelernt (und manchmal auch liebevoll eingeprügelt bekommen), dass es vollkommen ok ist, wenn man einfach mal schlecht drauf ist und dass man Probleme offen ansprechen kann und muss.
Auf eine sehr skurrile Weise, die ich gar nicht richtig beschreiben kann, hat mir das einen riesigen Arschtritt verpasst und mein Selbstbewusstsein extrem gestärkt. Auf einmal habe ich gemerkt, dass ich tatsächlich in der Lage bin ein Kleinunternehmen mit zehn bis 15 Angestellten zu führen und nebenbei auch noch ein normales Leben zu führen. Ich habe viele tolle und auch wirklich blöde Menschen kennengelernt und festgestellt, dass ich mit allen irgendwie fertig werde. Das hat mir dann vor einem Jahr nicht mehr so ganz gereicht, also habe ich beschlossen probeweise auszuwandern. Tja, und jetzt sitze ich hier in Göteborg, schaue meiner Assistentin beim Spielen auf ihrem Handy zu, während ich das hier schreibe und bin einfach nur glücklich, dass ich vor drei Jahren diesen Schritt gewagt habe und dabei geblieben bin. Jetzt kann das Leben kommen! Ich bin bereit!